In der ESG-Welt scheint vieles messbar, wenn man es nur stark genug in Scores presst. Impact 4,2. Risiko 3,7. Relevanz 2,9. So entsteht der Eindruck einer objektiven, evidenzbasierten Wesentlichkeitsanalyse – dabei handelt es sich meist um das Gegenteil, nämlich das Urteil weniger Experten in einem geschlossenen Raum.

Die gängigen Scoring-Ansätze beruhen darauf, dass ein kleines Team – oft bestehend aus Beratern oder internen ESG-Verantwortlichen – für jedes Nachhaltigkeitsthema die Auswirkungen und Wahrscheinlichkeiten bewertet. Das klingt effizient, ist aber in Wahrheit beratungsintensiv, teuer und methodisch fragil. Denn die Urteile dieser wenigen Personen sind zentralisiert, subjektiv und überaus anfällig für Verzerrungen und Rauschen. Kahneman, Sibony und Sunstein haben in Noise eindrucksvoll gezeigt, wie stark menschliche Urteile schwanken – selbst bei Fachleuten.

Demgegenüber steht der Befragungsansatz: Statt auf wenige Stimmen zu hören, wird das Wissen des gesamten Unternehmens aktiviert. Mitarbeitende, mittleres Management und ggf. externe Stakeholder werden befragt, wie sie die Impact- und finanzielle Wesentlichkeit entlang der ESG-Themen einschätzen. Die Antworten werden gemittelt – und genau darin liegt der methodische Fortschritt: Viele unabhängige Urteile ergeben im Durchschnitt die höchste Validität. James Surowiecki nannte dieses Prinzip schon 2004 The Wisdom of Crowds; Philip Tetlock u.a. haben es in ihren Superforecasting-Studien empirisch eindrucksvoll bestätigt.

Der Befragungsansatz ist also wissenschaftlich validerkommunikativ integrativer und kulturell produktiver:

  • Valider, weil er die Urteile vieler kombiniert und so individuelle Verzerrungen ausgleicht.
  • Integrativer, weil er Perspektiven aus dem gesamten Unternehmen einbezieht – nicht nur aus der ESG-Abteilung.
  • Produktiver, weil er Beteiligung erzeugt und Nachhaltigkeit als kollektives Thema erlebbar macht.

Natürlich hat auch der Befragungsansatz Grenzen: Er braucht saubere Fragebögen, ein Mindestmaß an Schulung und die Bereitschaft, den Ergebnissen zu vertrauen. Aber er ist schlank, kosteneffizient und anschlussfähig – und liefert Daten, die sich auch in Stakeholderdialoge und Kommunikationsstrategien integrieren lassen.

Befragungen reduzieren den Aufwand erheblich: Statt dass ein Expertenteam über Wochen Argumentationsrunden führt und Scores diskutiert, wird das Wissen vieler im Unternehmen in wenigen Tagen erhoben und statistisch ausgewertet. Das spart nicht nur interne Zeitbudgets, sondern auch externe Beratungskosten – denn der Großteil der Arbeit liegt in der strukturierten Vorbereitung und Auswertung, nicht im stundenlangen Debattieren über Interpretationen. Anders gesagt: Wo die klassische Wesentlichkeitsanalyse Stunden frisst, sammelt die Befragung in kurzer Zeit belastbare Evidenz.

Kurz gesagt:
Scoring-Modelle messen den Eindruck weniger.
Befragungen erfassen das Wissen vieler.

Wer ESG-Berichterstattung nicht nur als Pflicht, sondern als Lernprozess begreift, kommt um diese Einsicht kaum herum: Die beste Wesentlichkeitsanalyse ist keine monströse Excel-Matrix, sondern eine gute Befragung.


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